Ein sehr persönliches Fotoprojekt in und um Dresden von Matthias Kern.
Als ich das erste Mal nach Dresden kam, kannte ich niemanden in der Stadt. Ich zog in eine Plattenbauwohnung in der Johannstadt und lernte außerhalb der Arbeit niemanden kennen.
Die Stadt wirkte auf mich schon immer seltsam leer. Sicherlich, es gibt die Momente am Samstagnachmittag, in denen die Innenstadt zu platzen scheint; es gibt auch die Freitagabende in der Neustadt, an denen sich viele junge Leute rund ums sogenannte Assi-Eck scharen. Aber es reicht, einmal um eine Straße zu biegen, um plötzlich wieder vor der Leere zu stehen.
Meine Arbeit befand sich nur wenige hundert Meter von der Prager Straße, der Fußgängerpassage, die Bahnhof mit Innenstadt verbindet, entfernt. Nur war der Weg zum Büro immer damit verbunden, dass man der Bahntrasse in den Osten folgen musste. Und auch hier war die Leere immer spürbar: leere Betonruinen, schnelle Autos, leblose Siedlungen. Von meinem Bürofenster genoss ich den Blick auf eine Tankstelle.
Unter Kollegen haben wir einmal einen Namen für die Dresdner Leere gefunden: Dresdesse. Denn wir waren uns alle einig: Der Blick auf die Tankstelle war einfach nur trist.
Einige Jahre habe ich dann im Ausland gelebt. Ich bin 2020, mitten in der Pandemie, wieder zurückgekehrt. Und die Tristesse der Stadtlandschaft war umso stärker zu fühlen, als die Lokale geschlossen waren, der Weihnachtsmarkt gar nicht öffnen durfte und insgesamt jegliches Gefühl für die Stadt und für das Leben an einem Ort hinter Webcams und Videokonferenzplattformen aufzulösen schien. Für mich persönlich legte diese Zeit aber auch eine andere Schicht der Tristesse frei: Jetzt sah ich nicht mehr ausschließlich grauen Beton, sondern die geschichtliche Ebene der Stadt schien sich umso besser zu offenbaren.
Dresden erzählt eine Geschichte der Zerstörung und des Verschwindens. Nach der Bombardierung Dresdens im Zweiten Weltkrieg, die schon in sich das Stadtbild maßgeblich prägen, wurde gerade um die Prager Straße, aber auch in der Johannstadt und in den Peripherien Orte wie Prohlis und Gorbitz durch die sozialistische Architektur radikal und teilweise ohne Mitleid zu Betonwüsten umfunktioniert. Aber es blieb nicht bei dieser zweiten Zerstörung, denn nach dem Mauerfall wurden auch diese Stadtteile wieder gebrandmarkt, verwahrlosten teilweise oder wurden wieder mit neuen Bauprojekten in Angriff genommen.
Dieses ständige Verschwinden des Gesichtes der Stadt, vielleicht gepaart mit meiner relativen Einsamkeit als Zugezogener in Dresden, wurde für mich ein bedeutender kreativer Stimulus und ich startete mein Fotoprojekt Bonjour Dresdesse in Anlehnung an den Romantitel von Françoise Sagan, um das Gefühl der Unbeständigkeit, Austauschbarkeit und Flüchtigkeit des Stadtraumes auszudrücken. Bis heute führe ich das Projekt weiter, doch soll hier schon einmal ein kleiner Einblick gewährt werden.
Auf der künstlerischen Ebene ist das Projekt zum einen durch hochkontrastive und streng geometrisierende Streetphotography in der Art von Sean Tucker oder auch Siegfried Hanson inspiriert. Das menschliche Element ist also nicht direkt im Vordergrund, vielmehr spielt der Mensch als Maßstab, als schwindende Silhouette oder als Identifikationspunkt der Einsamkeit – ganz wie in Gemälden von Caspar David Friedrich – eine Rolle. Zum anderen zieht das Projekt aber auch seine Inspiration aus der Kunst des Surrealismus und hier insbesondere aus der metaphysischen Malerei (pittura metafisica) von Giorgio De Chirico.
In der Kunst von De Chirico aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts werden häufig verlassene Stadtlandschaften in starken Farben und einem naiven Stil dargestellt. Zumeist sieht man nur den Schatten von ein oder zwei Personen irgendwo im Hintergrund, deutlich verkleinert gegenüber den Gebäuden, die auf einfarbigen, planen Flächen wie aus einer Wüste gestampft erscheinen. Starke Schatten sorgen für die Plastizität der dargestellten Objekte – genauso wie mir so häufig Dresden erschien.
De Chirico wollte in seinen Bildern eine Art Unbehagen und das Gefühl einer versteckten Nachricht, die man allerdings kaum entschlüsseln kann, ausdrücken. In dieser Hinsicht nähert sich seine Kunst an die Darstellung von liminal spaces an, die man häufig in modernen Videospielen sehen kann: Liminal Spaces sind dabei verlassene Orte wie Parkhäuser, leere Wohnungen oder industrielle Brachflächen. Diese Orte drücken eine Schwelle der menschlichen Erfahrung aus: von der desolaten Einsamkeit des Ortes führen sie direkt zum Gefühl der existenziellen Lehre und der Hinterfragung der banalsten Objekte: Was soll dieses Schild hier bedeuten? Was verbirgt sich in den Schatten?
Die metaphysischen Stadtlandschaften Dresdens stellen häufig auch eine historische Frage, indem sie darauf hinweisen, das die Stadt in ständiger Veränderung ist und sich manchmal schneller verändert, als es das eigene Gefühl ertragen kann. So versteckt sich heute das Wandbild „Dresden grüßt seine Gäste“, von der sozialistischen Stadtleitung als erster Anblick der Anreisenden, die aus dem Bahnhof treten geplant, nun zwischen zwei Discount-Läden – ganz ähnlich wie ein Boybandposter, von dem man sich dennoch nicht trennen will, hektisch in eine vergessene Schublade gesteckt wird.
So scheinen heute vor allen Dingen die Überreste der sozialistischen Stadtvision recht beschämt versteckt zu werden. Unübersehbare Gebäude wie der Kulturpalast werden aufwändig saniert, damit sie moderner erscheinen, als sie sind; Plattenbauten mit bunten Balkons ausgestattet, um nicht mehr so erschreckend zu wirken. Doch immer bleibt das Gefühl, dass das moderne Bild der Stadt wie eine oberflächige Glasur leicht abgetragen werden kann: nämlich immer dann, wenn die Einsamkeit sich in diesen Räumen verbreitet.
In meinem Fotoprojekt erscheinen deshalb immer wieder Silhouetten und Figuren, die zu verschwinden scheinen und die Instabilität ihrer Umwelt unterstreichen.
Bonjour Dresdesse selbst ist noch kein abgeschlossenes Projekt. Immer wieder offenbaren sich neue, alltägliche Situationen, die das ganz bestimmte Gefühl der Einsamkeit und Leere dieser Stadt ausdrücken können. Vielleicht wird das Projekt auch nie vollendet. Doch ich hoffe inständig, dass es nicht genauso verschwindet und mir aus den Händen gleitet wie das innere Bild, das ich mir von Dresden immer wieder von Neuem mache.
Großartige Bilder. Mag ich sehr.
Liebe Grüße, Mark aus München